Die Schattenseite des schwarzen Pop

Lee Fields erschließt die verkannte Volksmusik des Chitlin` Circuit für den Mainstream

Lee Fields galt bis vor kurzem – bevor ihn seine neue Platte „My World” zum Liebling der weltweiten Hipstergemeinde machte – als obskurer Soulveteran mit zerfurchtem Gesicht und gewaltiger Stimme. Eine Insider-Legende, für dessen Debütalbum von 1979 auf E-Bay zwar vierstellige Summen geboten werden, der aber selbst kaum einmal mit einer Platte mehr verdiente als ein paar Tankfüllungen für den Tourbus. Wer ihn live erleben wollte, war darauf angewiesen, die knallbunten Pappen in den schwarzen Vierteln der Stadt zu lesen. Oder seinen Namen zufällig auf einem lokalen Bluessender in den Südstaaten zu hören. Dann konnte man ihn auf einem Mother’s Day Picnic im Stadtpark von Birmingham, Alabama erwischen, wo es nach fried chicken roch und tausende schwarzer Familien mit Liegestühlen und Eisboxen jeden Refrain seiner Songs mitsingen konnten.

Um als auswärtiger Soulfan zu solchen Konzerten zu finden, brauchte man immer viel Glück und Ausdauer. Denn die Auftritte der Stars der heutigen Southern Soul Szene sind nicht einmal im Internet zu finden. Ja, kein Ort Amerikas scheint klandestiner als der Chitlin’ Circuit: Ein Sammelbegriff all der sich ständig neu erfindenden Clubs, Kaschemmen und Casinos, die in den schwarzen Ghettos den traditionellen Rhythm’n’Blues am Leben erhalten. Große Radiostationen ignorieren diese Szene schlichtweg, eine Szene, in der die Texte noch zählen, der Gesang alles ist: Gewichtungen also, die dem modernen Produzenten-Rhythm’n’Blues und dessen Hochglanz-Arrangements diametral entgegenlaufen. Nein, hier geht es immer noch um quasi-religiöse Rituale. Um die Einlösung der Versprechen, die die revolutionäre Vokalkunst von Little Richard und Wilson Pickett einst gab. Und eine Sorte Schmutz, die von Außenstehenden gern verächtlich gemacht wird: als „Gebrauchs-Musik” . Erotomaner Kitsch. Billiger Exorzismus.

Auch Lee Fields wäre wohl in diesem Schubfach stecken geblieben – hätten ihn nicht Verehrer aus der Funk-Szene Brooklyns für sich entdeckt. Junge Hipster, die mit Bands wie Antibalas die Speerspitze des alternativen Soul stellen und als Dap Kings sowohl Sharon Jones als auch Amy Winehouse zu gefeierten Stars machten. Nun aber ist der Soul Survivor an der Reihe, der mit „My World” die Brücke zur Gegenwart und seinen selbstproduzierten CDs mit Leuchtfarben-Covern schlägt, die er von der Bühne schwarzer Ghetto-Clubs herab vertreibt.

Hier hatte Lee Fields in den achtziger Jahren Asyl gefunden, als er vom Wirbelsturm namens Disco von den Füßen geholt wurde. Die Plattenfirmen Stax und Hi Records waren untergegangen. Und mit ihnen scheinbar auch der erdige, bluesverwurzelte Southern Soul. Die Majors jedenfalls setzten auf eine neue Marketingstrategie: Sie öffneten die schwarze Kultur für weiße Konsumenten und befreiten sie von ideologischen Altlasten. Da störte ein Begriff wie Soul nur: Zu schwarz, zu politisch, zu traditionsbewusst. Also usurpierte man das neutraler klingende Rhythm’n’Blues als Synonym für den Soundtrack des modernen, ökonomisch aufstrebenden Afroamerika.

Alte unbelehrbare Soul-Haudegen à la Tyrone Davis oder Willie Clayton aber mussten sich in den Untergrund, zu regionalen Plattenfirmen retten. Und verschwanden somit aus dem Bewusstsein der nationalen Pop-Öffentlichkeit. Schließlich weiß kaum ein Amerikaner von den Blues-Radiostationen im Süden.

Hier musste sich Lee Fields nicht mehr um Mainstream-Pop-Vorgaben scheren. Konnte er sich ganz auf den Gesang konzentrieren: Er unterlegte ihn mit Drum Machines und Keyboards, begleitete sich im Heimstudio mit Gospelchören und verwaschenen Bluesakkorden. Und klang dabei freier und ekstatischer als je zuvor. Auf „My World”brennt der alte Mann es nun den Nachgeborenen geradezu ins Nervensystem: dass Soul eine andere Form des Gebets ist und sich immer noch von Blut, Schweiß und Tränen nährt. „Fields Stimme”, schrieb ein Kritiker, „hat die entsetzliche Wucht eines Ledergürtels in der Hand eines gewalttätigen Vaters und gleichzeitig die Verletzlichkeit der Kinder-Ärmchen, die sich zum Schutz vor den Schlägen erheben.”

Begleitet wird Fields dabei von einer 12-köpfigen Band aus Bläsern, Streichern, Orgel und Gitarren, die sich darauf beschränkt, Fields manische Gesänge zu stützen. Womöglich ist „My World” das wichtigste schwarze Soulalbum der letzten Jahre. Denn Lee Fields rückt die Südstaaten nicht nur näher an Brooklyn heran, sondern erschließt dem hippen weißen Boheme-Publikum einen der letzten weißen Flecke der Poplandkarte: Den Chitlin’ Circuit. JONATHAN FISCHER